Die Perzeption des postvokalen /r/ im Regionalfranzösisch auf La Réunion

Forschungsreise nach La Réunion im Rahmen einer Bachelor-Arbeit an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften

von Christine Meinzinger | 4. November 2019

Zum Projekt

Mein B.A.-Projekt im Bereich der Sprachwissenschaften führte mich im April 2019 nach La Réunion, eine vulkanische Insel, die sich auf der Weltkarte neben der großen Nachbarinsel Madagaskar beinahe unbemerkt und lediglich als kleiner Punkt im Indischen Ozean hervortut. Trotz einer Entfernung von ca. 11.000 km vom europäischen Festland ist La Réunion seit dem Jahr 1946 als eine offizielle Überseeregion den restlichen Regionen des französischen Staatsgebiets gleichgestellt.

Aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit konnte sich auf der Insel neben Französisch – als Sprache der weißen Siedler und Plantagenbesitzer – im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch das créole réunionnais – als Verständigungsmittel zwischen den aus Madagaskar und verschiedenen Regionen Ostafrikas stammenden Sklaven – etablieren. Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1848 wurden diese von Wanderarbeitern aus Südindien und China ersetzt, außerdem ließen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts muslimische Händler aus dem nordindischen Gujarat nieder. Die métissage und deren friedliches Miteinander charakterisiert bis heute die Gesellschaft auf La Réunion.

Die neuen Einwanderer ersetzten die eigenen Sprachen durch das Kreolische, welches zu dieser Zeit bereits die Sprache der Bevölkerungsmehrheit bildete. Da sich das créole réunionnais aus einem Hierarchiegefälle der Kolonialzeit entwickelte, setzt es sich typologisch betrachtet zu 90% aus Französisch und zu 10% aus den Muttersprachen der restlichen Bevölkerungsgruppen zusammen. Die offizielle Eingliederung La Réunions in das französische Staatsgebiet nach Ende des 2. Weltkriegs führte zwar zu einem Wirtschaftswachstum und verbesserte durch die Modernisierung in zahlreichen Bereichen – Bildung, medizinische Versorgung, Infrastruktur etc. – die Lebensqualität der Bewohner, dennoch werden die vorgenommenen Veränderungen in den aktuellen Forschungen z.T. sehr kritisch betrachtet. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive kann festgestellt werden, dass die Einflussnahme des État auch den Druck eines hexagonalen Standards mit sich brachte. Studien zwischen den 1960ern und frühen 2000ern konnten diesbezüglich nachweisen, dass sich das créole réunionnais infolge einer restriktiven Sprachpolitik auf phonologischer Ebene immer mehr dem Französischen annäherte. Das einzige „überlebende“ kreolische Charakteristikum stellt das fehlende postvokale /r/ dar. Ziel meiner Studie war es daher, mithilfe eines Hörtests herauszufinden, ob die Probanden heutzutage ein Wort mit fehlendem /r/ immer noch mit créole réunionnais in Verbindung brachten oder nicht. Für mehr theoretischen Input sowie zu einer genauen Beschreibung des Experiments hier der Link zum Projekt: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de (Freischaltung am 17.12.2019)

La Réunion erfährt man vor allem außerhalb der Städte. Hier der Blick vom Maïdo auf den Vulkankessel von Mafate. Keine Straßen führen in die kleinen Dörfer von Mafate. Um dort hinzugelangen muss man mehrere Stunde beschwerlichen Fußmarsch auf sich nehmen.

Zur praktischen Durchführung

Es war angedacht, dass innerhalb von drei Monaten 100 Probanden befragt werden sollten. Die Testpersonen erhielten nach Durchlauf des ca. 15-minütigen Experiments fünf Euro, die aus den Mitteln des LMU-Forschungsstipendiums gedeckt wurden.

Da ich an der Université de La Réunion eingeschrieben war, ergab es sich, dass die meisten Probanden ebenfalls Studierende in meinem Alter waren. Zunächst bat ich Kommilitonen aus meinen Kursen sowie deren Freunde und Bekannte um eine Teilnahme an meinem Experiment. Da ich neben universitären Kursen außerdem auch einen Kletterkurs belegte sowie zweimal wöchentlich im Kunstatelier auf dem Campus zeichnete, kamen zum Glück bereits einige Leute zusammen – denn ich machte mir zu Beginn wirklich Sorgen, ob ich jemals so viele Personen kennen lernen und befragen würde. Ich war positiv überrascht und gleichzeitig auch unglaublich dankbar, wie offen die meisten nicht nur für eine Teilnahme waren, sondern sich darüber hinaus auch sehr hilfsbereit zeigten. An dieser Stelle muss ich beispielsweise Dominique nennen – eine 58-jährige Réunionesin mit chinesischen Wurzeln – neben der ich im Kalligrafie-Kurs saß. Nachdem ich ihr von meinem Projekt erzählt hatte, lud sie mich kurzerhand zu einem anstehendem Familienessen am Wochenende ein, wo ich nicht nur die von ihr gekochten Köstlichkeiten probieren durfte, sondern nebenher auch alle anwesenden Familienmitglieder befragen durfte. Die Testpersonen zeigten sich sehr an der Studie interessiert und diskutierten die Thematik auch noch lange nach dem Dessert.

Nachdem ich bereits alle Studierenden, Professoren, Sekretärinnen, Bibliothekare, Hausmeister und alle sonstigen Menschen, die ich auf dem kleinen Campus in Moufia zumindest ansatzweise kannte, um eine Teilnahme gebeten hatte, ging ich – nach einiger Überwindung – dazu über, beispielsweise auch Studierende, die in der Bibliothek lernten und die nicht kannte, zu fragen. Um außerdem Probanden außerhalb des Studentenalters zu finden, ging ich auch im Stadtzentrum in den Geschäften, Bäckereien und Cafés auf die Suche nach geeigneten Personen. Allerdings war dort die Auswahl wegen der allgemein lauten Atmosphäre oder der Anwesenheit von Klienten eher begrenzt – letztendlich konnte ich zumindest den Besitzer eines Teegeschäfts, einen Verkäufer in einer schicken Modeboutique sowie die Inhaberin eines Tattoo-Studios zu einer Teilnahme überreden. Des Weiteren befragte ich außerhalb der Hauptstadt meine Couchsurfing-Hosts: Nachdem ich beispielsweise an einem Wochenende spontan gemeinsam mit einem Freund beschlossen hatte, mit dem Fahrrad um die Insel zu fahren, packte ich meinen Laptop und die für das Experiment benötigten Kopfhörer gut in mehrere Plastiktüten ein und befragte, nach einer ersten anstrengenden und stark verregneten Etappe, George und seine Frau Christine in Sainte Anne. Bei einem Zwischenstopp in L’Étang-Salé-les-Hauts am nächsten Tag befragte ich außerdem Georgina sowie zwei ihrer Nachbarn. Georgina erzählte mir später, dass das Leben in dem großen Mietshaus eigentlich größtenteils anonym war. Da sie mir allerdings helfen wollte Probanden für meine Studie zu gewinnen, klopfte sie spontan an allen Haustüren in ihrem Wohnblock und lernte dadurch zum ersten Mal ihre Nachbarn richtig kennen.

Vor Beginn des Projekts hatte ich mich bereits versucht auf alle Eventualitäten einzustellen. Ich hätte jedoch nicht geahnt, wie die Studie nicht nur mich mit anderen Menschen in Kontakt brachte, sondern darüber hinaus auch meine Probanden vernetzte. Ich bin im Nachhinein sehr dankbar, dass ich diese vielen unterschiedlichen und liebenswerten Menschen kennen lernen durfte, denn mit einem Großteil wäre ich ohne mein Projekt wahrscheinlich sonst nie ins Gespräch gekommen. Letztendlich konnte ich für das sprachwissenschaftliche Experiment 122 Probanden gewinnen.

In L’Étang-Salé-les-Hauts: Nachdem Georgina und ihre beiden Nachbarn erfolgreich an dem Experiment teilgenommen hatten, spielten wir anschließend noch spontan mit dem Geld von der Probandenvergütung Poker. Leider hatte ich kein Glück beim Spiel – aber dafür bekam ich zumindest einen lauschigen Schlafplatz auf der Terrasse.

Probleme… und ihre Lösung

An dieser Stelle möchte ich auch kurz von einigen Hindernissen berichten, auf dich ich nicht eingestellt war. Ein praktisches Problem, das ich überhaupt nicht vorhergesehen hatte, war die Beschaffung von Fünf-Euro-Scheinen. In keiner einzigen Bankfiliale – selbst in größeren in der Hauptstadt – wollte man mir die Scheine wechseln mit der Auskunft, dass dies in Frankreich gegen das Gesetz sei. Ich versuchte also beispielsweise im Supermarkt so einzukaufen, dass mir die Kassiererin mindestens fünf Euro herausgeben musste – freiwillig gaben sie speziell diese Scheine nur äußerst ungern heraus – oder tauschte bei Gelegenheit bei Freunden und Bekannten entsprechend um. Letztendlich stellte es sich am stressfreisten und effizientesten heraus, wenn ich regelmäßig den einen Euro teuren Espresso in der Mensa entweder mit 10 € oder 20 € bezahlte – diese Scheine gibt es sehr viel häufiger – und das Rückgeld in einem großen Marmeladenglas auf meinem Schreibtisch hortete. In wenigen Notfällen musste ich die Probanden mit jeder Menge 50-, 20- oder sogar 10-Cent Münzen bezahlen, was diese zum Glück jedoch nicht störte.

Ein weiteres Problem stellte das phasenweise wirklich miserable WiFi an der Universität dar, denn aus praktischen Gründen wollte ich die personenbezogenen Daten nicht handschriftlich, sondern online mithilfe einer Umfrageplattform sammeln. Da das verantwortliche Technikteam nie zu den offiziellen Öffnungszeiten im Büro vorzufinden war, entschloss ich mich dazu, fortan für Notfälle auch immer gedruckte Exemplare mitzunehmen und die Angaben später dann selbst in das Programm zu übertragen.

Des Weiteren gaben viele Probanden nicht Bescheid, wenn sie zu spät kamen, was mich insgesamt nicht nur viel unnötige Wartezeit kostete, sondern mich außerdem in Terminbedrängnis brachte. Da ich wegen der Uni meist einen vollgepackten Stundenplan hatte und nur ein genau einkalkuliertes, meist kleines Zeitfenster zur Verfügung hatte – das zu-spät-Kommen wird von den meisten französischen Dozenten als unhöflich und respektlos empfunden und war daher leider keine Option – musste ich viele Termine mehrmals neu koordinieren.

Für die Studie waren nur Probanden aus La Réunion oder Hexagonal-Frankreich vorgesehen, weswegen Cindy aus Französisch-Guyana leider nicht teilnehmen konnte – dafür aber ihr aus Lyon stammender Mitbewohner. Letztendlich blieb ich dann nicht nur für das 15-minütige Experiment, sondern auch gleich fürs Mittagessen.

Fazit

Obwohl Vorbereitung, Durchführung sowie schlussendlich das Verfassen der Arbeit wirklich unglaublich viel Zeit, Mühe und Energie kosteten und mich außerdem regelmäßig aus meiner Komfortzone schubsten – die Anfertigung der Audio-Samples in einem mir kaum genutzten Computerprogramm, die komplizierte statistische Auswertung in R oder die Überwindung, Wildfremde für eine Teilnahme an meinem Projekt zu bewegen, um an dieser Stelle nur einige zu nennen – bin ich doch froh, dass ich den Schritt gewagt habe. Neben der fachlichen Bereicherung sowie der Erkenntnis, dass man sich alles beibringen kann, wenn man nur genügend Zeit, Geduld und Frustrationstoleranz mit sich bringt, bin ich am allermeisten für die vielen, vielen wunderbaren Menschen dankbar, die ich durch mein Projekt kennen lernen konnte und die meinen Aufenthalt auf La Réunion so stark geprägt und bereichert haben.